Für die meisten Frauen ist es selbstverständlich, Lieblingsmode in der richtigen Größe zu bekommen – Frauen ab 1,80 Meter haben es da oft deutlich schwerer, werden nur selten bei lokalen Labels oder in den einschlägigen Stores fündig und können oft nur auf eine kleine Auswahl zurückgreifen. Die Schweizerin Annemarie Sickeler kennt dieses Problem und eröffnete 2012 ihren ersten Langgrößen-Store I LOVE TALL in Zürich – dieses Jahr kam ein Store in Hamburg, samt eigenem Label dazu. Vom rosafarbenem Pulli über das kleine Schwarze bis hin zur Flared Denim – Frauen über 1,80 werden bei der 43-Jährigen und ihrem Team happy. Wir haben mit der 1,87 Meter großen Powerfrau, die ursprünglich in der Logistik gearbeitet hat, über ihr Label, große norddeutsche Frauen und Mut zu mehr Selbstsicherheit gesprochen.
femtastics: Sie sind knapp 1,90 Meter groß – werden Sie häufig von fremden Menschen auf Ihre Körpergröße angesprochen?
Annemarie Sickeler: Ich merke es, wenn mich Leute anschauen oder gucken, ob ich Absätze trage oder nicht. Es spielt für mich aber keine Rolle mehr.
Das war in der Vergangenheit also mal anders?
Ja, meine Größe hat mich sehr gehemmt und blockiert. Seitdem ich genügend lange Mode habe, habe ich Frieden mit meiner Größe geschlossen. Früher wollte ich immer kleiner sein und nicht überall auffallen.
Und die Suche nach passender Kleidung war schwierig?
Es ist so frustrierend: Man geht in hunderte Läden und alles ist zu kurz, auch wenn einem die Verkäuferinnen die längsten Teile zeigen. Für Frauen ab 1,80 Meter macht die herkömmliche Industrie nichts. Die Durchschnittshöhe der deutschen Frau liegt bei 1,65 Meter. Und wenn man sieht, was die Textilindustrie für einen Spagat machen muss – von 1,65 bis 1,78 – kann man verstehen, dass sie Kleidung nicht bis 1,90 skalieren können.
Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass Langgrößen nicht selbstverständlich bei Labels und in Stores integriert werden?
In Deutschland sind es knapp über zwei Prozent der Frauen, die Langgrößen benötigen, in der Schweiz sind es noch weniger. Es würde sich für die Labels nicht lohnen, Langgrößen on top zu produzieren. Besonders, wenn man sich anschaut, wie billig die meiste Mode geworden ist – das funktioniert nur über riesengroße Stückmengen, die gefertigt werden. Bei Übergrößen kann man einfach den Schnitt nehmen und die Größe in der Breite gradieren, bei Langgrößen muss man ganz neue Schnittmuster erstellen. Eine Hose wird zum Beispiel am Hüftpunkt, am Knie und am Saum verlängert – man ergänzt nicht einfach zehn Zentimeter unten an der Hose.
Daraus entstand Ihre Idee, 2012 einen eigenen Laden mit Langgrößen-Labels zu eröffnen?
Als ich Mitte der Neunziger-Jahre in Kanada gelebt habe, habe ich das erste Geschäft gesehen, das Langgrößen für Frauen geführt hat – ich kannte das damals nicht und wusste auch nicht, dass es so etwas gibt. Damals kam ich gerade aus der Lehre und konnte es natürlich nicht sofort selbst in der Schweiz umsetzen. Ich habe an vielen Orten auf der Welt gelebt und gearbeitet und diese Längen gab es einfach nicht, besonders im Bereich Kleider und Oberteile – ich habe mal eine längere Jeans gefunden, aber mit einer Jeans bin ich natürlich nicht angezogen.
2011 habe ich dann gedacht: Jetzt mache ich es, um mir und anderen Frauen eine Lösung zu bieten. Ich habe Hersteller gesucht, die Teile in Langgrößen produzieren. Das Sortiment war natürlich viel kleiner als jetzt. Mit der Eröffnung in Hamburg haben wir angefangen, auch selber zu produzieren, um auch die Mode zu bieten, die uns fehlt und die gerade gefragt ist.
Was ist die Philosophie hinter I LOVE TALL?
Mein Team und ich kennen das Problem, das lange Menschen bezüglich Kleidung haben – wir sind selbst davon betroffen und können Lösungen bieten. Das spiegelt sich auch im Sortiment wider. Wir wollen das gesamte Sortiment abdecken, von der Casual Wear und Jeans bis hin zu Business-Kleidung. Das Ziel ist, dass wir auch jüngere Frauen ab 25 Jahre ansprechen. Frauen, die bislang ihren eigenen Modestil gar nicht richtig ausleben konnten, weil sie immer das kaufen mussten, was nicht zu kurz für sie war. Wir haben aber auch 19-jährige Kundinnen, die 1,90 Meter groß sind und bei uns die megaschmale Jeggings kaufen. Es freut uns, dass wir das auch bedienen können.
Sind die Verkäuferinnen bei I LOVE TALL auch alle über 1,80 Meter groß?
Ja, auch wegen der Kundin. Ich möchte nicht diskriminierend oder ausgrenzend sein. Wir merken aber, dass die Kundinnen sehr dankbar sind, wenn man ihnen auf Augenhöhe begegnet. Sie fühlen sich verstanden. Unsere Kundinnen schätzen es, bei uns vorbeizukommen und nehmen auch die Beratung gerne an. Das Team versteht das Produkt und kennt die Probleme.
Sie haben sicherlich auch Kundinnen die deutlich größer als 1,90 Meter sind.
Ja, unsere größte Kundin ist über zwei Meter groß. Ich bin stolz, wenn sie bei uns etwas findet. So eine Länge einzukleiden ist nicht ganz einfach. Für uns ist das natürlich auch wieder ein Spagat, Kleidung für Frauen von 1,85 bis über zwei Meter zu designen.
Hatten Sie vorher auch schon mit Mode zu tun?
Das Thema hat mich ehrlich gesagt früher nicht interessiert. Es hat in der Vergangenheit nichts gepasst, alles war zu kurz – da konnte ich gar kein Interesse für Mode entwickeln. Ich habe erst jetzt gemerkt, dass ich Freude an Mode und schönen Produkten habe. Ich bin eine Quereinsteigerin.
Was haben Sie ursprünglich gelernt?
Ich habe in der Logistik gearbeitet und war spezialisiert auf die Öl- und Gasindustrie, ich habe also was ganz anderes gemacht.
Das klingt spannend! Wie haben Sie sich das Know-How für Mode angeeignet? Kannten Sie jemanden in der Modebranche?
Ich habe mir alles selbst angeeignet. Business ist Business. Ob es nun Logistik, Öl und Gas oder Mode ist. Besonders durch unsere Produzenten in der Türkei habe ich viel über Schnitte und Stoffe gelernt, außerdem arbeite ich eng mit meinem Designteam zusammen.
Lassen Sie alles in Europa produzieren?
Ja, wir wollen so fair wie möglich produzieren und auch so ökologisch wie möglich. Uns ist wichtig, dass wir uns im europäischen Wirtschaftsraum bewegen. Fernost hat für uns keinen Nutzen, auch aufgrund der Stückmengen und der Logistik.
Schuhe haben Sie nicht im Sortiment. Woran liegt das?
Ich habe natürlich auch schon darüber nachgedacht. Ich habe zwar selbst Schuhgröße 44 – mir fehlt aber einfach die Leidenschaft für Schuhe und Leidenschaft ist mir bei I LOVE TALL besonders wichtig. Es gibt im Bekleidungsbereich einfach noch so viel für uns zu tun, noch mehr als wir jetzt schon machen. Gerade in Richtung Outdoorbekleidung und Bademode. Unsere Vision ist, die gesamte Range abzudecken. Aber natürlich kann ich Kundinnen, wenn sie wünschen, Schuhläden empfehlen, die große Größen führen.
Welchen Tipp möchten Sie unseren großen Leserinnen noch mit auf den Weg geben?
Traut euch! Große Frauen trauen sich oft nicht. Sie sind es gewohnt, dass nichts richtig sitzt und greifen deshalb in der Regel zu möglichst unauffälliger Kleidung. Das ist schade! Ich habe es in Zürich in der ersten Saison, kurz nach der Eröffnung, extrem gemerkt: Alle Frauen wollten nur ganz schlichte Sachen kaufen. Mein Team und ich haben die Frauen dann aber beraten und konnten schnell einen Wandel feststellen: Sie sind mutiger geworden, weil die Kleidungsstücke endlich passen. Zum Thema Absätze: Tragt Absätze, wenn ihr Lust darauf habt – auf die paar Zentimeter kommt es doch nicht mehr an, die Leute schauen sowieso (lacht).
Am wichtigsten ist, dass ihr euch wohlfühlt und euch und der Mode eine neue Chance gebt.
Das sehen wir ganz genauso und das ist ein schönes Schlusswort. Vielen Dank für das Interview!